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Grenzen zwischen den Menschen

von Karsten Schuldt

In der alternativen Kunst- und Literaturszene der DDR galt Gabriele Stötzer, damals unter ihrem Ehenamen Kachold arbeitend, als Ausnahme. Nachdem sie wegen ihrer Unterschrift auf dem Offenen Brief DDR-Intellektueller gegen die Biermann-Ausbürgerung 1976 zu einem Jahr Haft verurteilt worden war, begann sie sowohl zu schreiben als auch zu fotografieren, zu filmen, zu weben und zu zeichnen. Als Leiterin einer illegalen Galerie in Erfurt, 1981 vom Rat der Stadt geschlossen, nahm sie bald eine wichtige Position innerhalb der nicht-offiziellen Szene ein. Ihre heute immer wieder hervorgehobene Stellung begründet sich allerdings weniger durch ihre Geschichte, als durch ihre radikale Haltung zur Geschlechterfrage. Männer seien welche, die Frauen ausbeuteten, den Staat bildeten, von ihren Trieben abhängig seien und die Welt zerstörten. Frauen ließen sich vor allem sowohl sexuell als auch in jeder anderen Hinsicht ausbeuten und verstrickten sich in ein Spiel aller gegen alle. Letztlich bleibe die Differenz zwischen Frauen und Männern unaufhebbar, die Grenzen zwischen den einzelnen Frauen werden immer wieder neu gezogen.

Diese Wahrnehmung zeigt sich auch in Texten Stötzers, die vorrangig von Einsamkeit, vom Betrogenwerden und Eingesperrtsein thematisiert werden. Sexualität wird in diesem Zusammenhang immer wieder als Ausbeutung, als reines Beinebreitmachen der Frauen gezeichnet. Damit war die Autorin relativ allein in ihrer Szene. Der Geschlechterwiderspruch wurde, wenn überhaupt angesprochen, nicht mit so harten Worten und Bildern beschrieben.

Aus diesem Grund widersetzt sich die Publikation ausgewählter Texte Stötzers in dem Band Ich bin die Frau von gestern auch der Zielsetzung der Herausgeber Ines Geipel und Joachim Walther. Diese versuchen in ihrer Verschwiegenen Bibliothek unter dem Dach der Stiftung Aufarbeitung, ein Bild der vorgeblich beständig aktiv oppositionellen DDR-Avantgarde zu zeichnen und dabei, so ist an der bisher erfolgten Auswahl der Reihe zu sehen, die DDR selber undifferenziert als totalitären Staat darzustellen. Die Texte Stötzers geben dies nicht her. So vermitteln die äußerst kurzen Prosa- und Lyrikstücke, auch wenn sie zum Teil überarbeitet wurden, kaum etwas von der angepriesenen Originalität. Sie sind relativ inkonsistent. Erschien dies in den Publikationen Stötzers bis 1995 als selbstgewählte Schreibhaltung der Autorin, hat sie mit ihrem Buch Die bröckelnde Festung (2002) bewiesen, sehr wohl längere und ausgefeiltere Texte schreiben zu können. Vor diesem Hintergrund erscheinen die frühen Texte als überwundene Phase des Suchens und Ausprobierens.

Was allerdings den Zielsetzungen der Reihe weit mehr zuwiderläuft ist der Umstand, daß die DDR kaum behandelt wird. Erst in den Texten von 1989, als Stötzer auch selber politisch in Frauengruppen und bei der Besetzung der Erfurter Stasizentrale aktiv wurde, änderte sich dies. Zuvor überwogen Schilderungen von Einsamkeit und Verlassensein.

Zur Politisierung eignen sich diese Texte nicht. Die interessantere Frage wäre, warum und wie eine Frau in einer Gesellschaft mit gesetzlich festgeschriebener und teilweise aktiv geförderter Gleichberechtigung, wie es die DDR war, zu ähnlichen Themen und Bildern gelangte wie die feministische Literatur in der BRD und der westlichen Welt?

Gabriele Stötzer: Ich bin die Frau von Gestern. Prosa und Gedichte, Edition Büchergilde Frankfurt am Main, 224 Seiten, 19,90 Euro

Quelle: das Blättchen, Nr. 25/2005, Dezember 2005