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Mythen entschlüsseln

Ist "Lebenslanges Lernen" mehr als eine inhaltsleere Phrase? Eine kurze Begriffsgeschichte des Mythos'. Von Karsten Schuldt

Oft wird Lebenslanges Lernen als Schlagwort missverstanden, dass nichts weiter ausdrücken würde, als den Fakt, dass Menschen beständig in Lernprozesse involviert sind. Unter dieser Annahme versuchen unterschiedliche Einrichtungen sich politisch als zu fördernde Institutionen zu empfehlen. Gesellschaftskritische Beiträge sehen dies anders. In ihnen wird das Schlagwort vom Lebenslangen Lernen als Forderung gedeutet, dass sich die Menschen selbstständig bilden sollten, um den Anforderungen der Wirtschaft zu entsprechen. Es würde, so die Analyse, ein beständiger Druck zur Weiterbildung aufgebaut, der an den Interessen der meisten Menschen vorbeiginge.

Wäre das Konzept Lebenslanges Lernen tatsächlich so trivial, es würde nicht die Aufmerksamkeit erhalten, die es zumindest in der Politik erhält. Beispielsweise investiert die Europäische Union in ihr laufendes Lifelong Learning Programm insgesamt sieben Milliarden Euro. Und die Bundesregierung hat im April 2008 ein Konzeptprogramm verabschiedet, in dessen Rahmen Lebenslanges Lernen ein Modell darstellt, mit dem im großen Rahmen auf Unzulänglichkeiten des Bildungssystems reagiert werden soll. Einen tatsächlichen durchgreifenden Effekt hatten diese Programme und Konzepte bislang nicht. Sie werden auch keinen haben, wie die Geschichte des Konzeptes Lebenslanges Lernen lehrt.

1970er Jahre

Der Terminus Lebenslanges Lernen wurde in den 1970er Jahren von der Unicef geprägt. Weltpolitisch war diese Zeit geprägt von der Blockkonfrontation, antikolonialen Kämpfen und einem wachsenden Wohlfahrtsniveau. In der sogenannten ersten Welt fand eine Etablierung der Liberalisierung statt, die im Rahmen der 68er-Bewegungen angestoßen worden war. Viele der Staaten in der sogenannten dritten Welt versuchten eine sozial gerechtere Gesellschaft zu begründen. Es war eine Zeit massiver Alphabetisierungskampagnen. Gerade in Südamerika wurde im Umkreis von Paulo Freire und Ivan Illich ein Konzept der selbstbestimmten Bildung propagiert, dass auf einer Kritik der Institution Schule aufbauend, die Selbstermächtigung der Lernenden zum Ziel hatte.

Von der Unesco wurde unter Edgar Faure eine Kommission eingerichtet, die Grundzüge der zukünftigen Bildungssysteme bestimmen sollte. Die Kommission war der weltpolitischen Situation entsprechend repräsentativ besetzt. Deren als Faure-Bericht bekannt gewordener Abschlussbericht bestimmte die Aufgabe der Bildung hauptsächlich als demokratisierend. Bildung, so die Grundthese, habe die Aufgabe, die Menschen zur Aufklärung zu erziehen, damit diese sich der Gesellschaft in der sie leben bewusst werden und diese verändern können. Der demokratischen Entwicklung und Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen wurde der absolute Vorrang eingeräumt. Der Bericht kulminiert in der These, dass es ein Scheitern der Bildungssysteme darstellen würde, wenn die Menschen, die hohe Bildungstitel erwerben, nicht gleichsam ein soziales Bewusstsein ausprägen würden, ihr Wissen im Sinne des gesellschaftlichen Fortschritts einzusetzen.

Der Faure-Bericht bestimmte in den 1970er Jahren eine Diskussion, die Bildung mit dem Versprechen eines besseren Lebens für alle verband. Allerdings verschwand diese Debatte aus unterschiedlichen Gründen im Laufe der 1980er Jahre.

1990er Jahre

1993 wurde, wieder unter dem Dach der Unesco, unter Jacques Delors eine neue Arbeitsgruppe eingerichtet, um einen weiteren Bericht zur Lage der Bildungssysteme auszuarbeiten. Die weltpolitische Lage hatte sich geändert. Einer der beiden Blöcke existierte nicht mehr, die kapitalistische Produktionsweise und eine liberal-demokratische Ideologie konnte sich für einige Jahre relativ konkurrenzlos darstellen. Deshalb verschob sich auch der Fokus der Kritik an den Bildungssystemen. Die Arbeitsgruppe war zutiefst davon überzeugt, dass dem wirtschaftlichen Aufschwung eine Demokratisierung der Gesellschaft nachfolgen würde, obwohl diese Überzeugung angesichts von Entwicklungsdiktaturen wie China oder Chile unter Pinochet nicht wirklich haltbar ist.

Als Hauptproblem der Bildungssysteme wurde analysiert, dass sie nicht allen Menschen dazu verhelfen würden, ihre beruflichen und wirtschaftlichen Potentiale auszunutzen. Bildung wurde letztlich mit wirtschaftlichem Fortkommen gleichgesetzt. Das Menschen nicht weiterlernen, wenn sie es eigentlich könnten, wird als Problem bezeichnet. Insbesondere wurde etwas behauptet, dass sich seitdem als Allgemeinplatz durchgesetzt hat: nämlich, dass die Wirtschaft immer schneller neue Anforderungen hervorbringen würde, die nur durch ständiges Weiterlernen zu meistern wären. Wer nicht lernt, würde beruflich zurückfallen und ein Staat, welcher nicht das ständige Weiterlernen seiner Bevölkerung nach der Erstausbildung organisieren könnte, würde seine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit beeinträchtigen.

Die Realität sieht auch heute noch anders aus: wer nach der Berufsausbildung nicht weiterlernt, bleibt zumeist in einer relativ vorgezeichneten beruflichen Karriere, aber er oder sie fällt beruflich nicht zurück. Ob das gut ist, ist eine andere Frage. Dagegen hat sich das Problem der Überqualifikation verschärft, also das Phänomen, dass Menschen nicht eingestellt werden, weil sie angeblich zu gut für eine Stelle seien. Dies wird in Debatten um Lebenslanges Lernen allerdings kaum thematisiert.

Obwohl als Bericht der Unesco vorgelegt, wurde der Delors-Bericht hauptsächlich von explizit wirtschaftlich orientierten Organisationen, wie der OECD und der Weltbank aufgegriffen. Bei deren Interpretation fiel allerdings der demokratisierende Aspekt weg. Die Interpretation des Konzeptes Lebenslanges Lernen durch diese Organisationen ist aktuell die bestimmende, auch weil es einfach keine offensiv vertretene Alternative gibt. Das Absurde dabei ist, dass die Politik, die versucht an dieses Konzepte anzuschließen, sie meist noch weiter reduziert und die Warnungen selbst der internationalen Wirtschaftsverbände vor den Folgen sozialer Verwerfungen für die Stabilität von Gesellschaften vollständig ignoriert.

Inhalte

Aber was heißt nun Lebenslanges Lernen? Das ist, trotz aller Debatten, relativ unklar. Die vom Faure-Bericht angeregte cité éducative, eine Gesellschaft, in der selbstorganisiertes Lernen zum Allgemeingut gehört, Bildung als Recht - nicht unbedingt als Pflicht - der Menschen begriffen und aktiv gefördert wird, scheint immer noch das bestmögliche Bild dieses Konzeptes darzustellen.

Grundsätzlich ist die im Rahmen des Konzeptes formulierte Kritik immer gewesen, dass die realen Bildungssysteme mit ihrer Konzentration auf formale Bildungseinrichtungen - also Schule, Berufsausbildung und Hochschule - den Anforderungen der jeweiligen Gesellschaft nicht gerecht würden. Zudem wurde immer kritisiert, dass einem großen Teil der Bevölkerung eine grundlegende Bildung vorenthalten würde. Die verschiedenen Vorschläge, die gemacht wurden, liefen beständig auf drei Aspekte hinaus. Erstens solle allen Menschen eine Grundbildung ermöglicht werden, die das Weiterlernen nach der Erstausbildung ermöglichen soll. Zweitens solle allen Menschen der Zugang in alle möglichen Bildungseinrichtungen ermöglicht werden, gerade, wenn sie schon einmal beim eigentlich vorgesehenen Aufstieg durch die Bildungseinrichtungen gescheitert sind. Und drittens solle die Bildung an sich flexibler auf die Anforderungen der Gesellschaft eingehen.

Falsch sind diese drei Kritikpunkte nicht. Sie stehen allerdings immer wieder unter dem jeweils vorherrschenden Paradigma. In den 70er Jahren unter dem Paradigma einer gerechteren Gesellschaft, in den 90er Jahren unter dem Paradigma der neoklassischen Ökonomie, dass unter anderem die Menschen hauptsächlich als Individuen und weniger als Teil der Gesellschaft beschreibt. In den letzten Jahren tauchen zudem in den Texten immer wieder Hinweise auf eine nachhaltige Entwicklung auf, wie auch immer dieses Schlagwort im Bezug auf Bildung inhaltlich gefüllt werden kann. Die Interpretationen dieser Konzepte sind immer ein Feld politischer Auseinandersetzungen. Wenn sich Initiativen auf diesem Feld engagieren, sind sie in der Lage ihnen wichtigen Aspekte zu fördern. Das Lebenslanges Lernen heute oft als Forderung an Menschen begriffen wird, ihr Wissen ständig den Anforderungen der Wirtschaft anzupassen, hat vor allem damit zu tun, dass alle politischen Akteure, die andere Zielrichtungen hätten betonen können praktisch vor der neoklassischen Logik kapituliert haben. Außerdem ist eine Erfahrung, dass die Bildungspolitik zwar mit dem Konzept Lebenslanges Lernen argumentiert, aber dessen Inhalte selber vollkommen diffus umzusetzen versucht. Vorherrschend ist weltweit eine relativ provinzielle Auslegung des Konzeptes, das dazu benutzt wird, die eigenen Vorstellungen von einem richtigen Bildungssystem mit dem Argument zu untermauern, dass dies international gefordert würde.

Würde die Kritik, die mit dem Konzept Lebenslanges Lernen selbst in seiner wirtschaftsfreundlichen Auslegung formuliert wird, ernst genommen, so müssten die Zugänge zu allen Bildungseinrichtungen für alle Menschen offen stehen, müssten weitere Bildungseinrichtungen aufgebaut und kontinuierlich finanziert werden. Zudem müsste ein System der Bildungsberatung aufgebaut werden, mit dessen Hilfe Menschen bei allen möglichen Lernprojekten inhaltlich und finanziell unterstützt würden. Nicht zuletzt müsste - und das steht dem Kontrollwahn der aktuellen deutschen Bildungspolitik fundamental entgegen - hingenommen werden, dass Menschen Dinge lernen wollen, die sich wirtschaftlich oder gesellschaftlich nicht unbedingt verwerten lassen. Und auch dies müsste finanziert werden. Das wäre ein gesellschaftliches Großprojekt, an das sich nicht herangetraut wird. Oder anders gesagt: wann immer die Bildungspolitik oder andere Institutionen sich auf das Konzept Lebenslanges Lernen berufen, wissen sie einfach nicht, wovon sie reden - nämlich von einem radikalen Umbau des Bildungssystems, den sich diese Organisationen nicht wirklich vorstellen können, auch nicht die Kritikerinnen und Kritiker des aktuellen Bildungssystems, die heute inhaltlich kaum mehr als den Erhalt des Bildungssystems der 1980er Jahre zu fordern in der Lage scheinen. Gerade weil es einen so radikalen Antagonismus zu allen bisher umgesetzten Bildungskonzepten darstellt, wäre das Konzept Lebenslanges Lernen, wenn es mit eigenem Inhalt gefüllt würde, eine gute Basis zu Kritik des realen Bildungssystems.

Literatur

Faure, Edgar u.a. / Wie wir leben lernen - Der UNESCO-Bericht über Ziele und Zukunft unserer Erziehungsprogramme, Reinbak, Rowohlt, 1973

Delors, Jacques u.a.; Deutsche UNESCO-Kommission / Lernfähigkeit - Unser verborgener Reichtum; UNESCO-Bericht zur Bildung für das 21. Jahrhundert, Neuwied u.a, Luchterhand, 1997

Gerlach, Christiane / Lebenslanges Lernen - Konzepte und Entwicklungen 1972 bis 1997, Köln u.a., Böhlen Verlag, 2000

Kade, Jochen; Seitter, Wolfgang / Lebenslanges Lernen - mögliche Bildungswelten - Erwachsenenbildung, Biographie und Alltag, Opladen, Leske + Budrich, 1996

Rhyn, Heinz [Hrsg.] / Heterogenität, Gerechtigkeit und Exzellenz: Lebenslanges Lernen in der Wissensgesellschaft, Insbruck u.a., StudienVerlag, 2007

Quelle: HUch - Zeitung der studentischen Selbstverwaltung der Humboldt-Universität zu Berlin, Nr. 55, Juli 2008, S.9-10