Kleinere Öffentliche Bibliotheken und ihr Umfeld
Karsten Schuldt (November 2007)
Die deutschsprachige Bibliothekswissenschaft beschäftigt sich wenig mit Öffentlichen Bibliotheken. Deshalb liegen zu diesen Einrichtungen und ihren Wirkungen für Deutschland nur wenige Forschungen vor. Es finden sich in bibliothekspolitischen Texten einige allgemeine Vorstellungen, wie Öffentliche Bibliotheken wirken sollten. Allerdings sind diese Aussagen selten wissenschaftlich abgesichert. Die Bibliothekswissenschaft außerhalb des deutschsprachigen Raumes hat hingegen oft Öffentliche Bibliotheken zum Thema. Wenn auch einige Vorsicht bei der Übertragung der Ergebnisse dieser Forschungen auf deutsche Verhältnisse gegeben ist, lassen sich aus ihnen dennoch grundsätzlich Schlüsse über die Funktionsweisen Öffentlicher Bibliotheken ziehen.
Der folgende Text ist der Frage gewidmet, welche Rolle gerade kleinere Öffentliche Bibliotheken im urbanen Raum für ihr jeweiliges Umfeld spielen.
Aufgaben Öffentlicher Bibliotheken
Das Bibliothekswesen in Deutschland ist generell uneinheitlich, unübersichtlich und stark intern differenziert. Allgemein kann man zwischen Wissenschaftlichen und Öffentlichen Bibliotheken unterscheiden. Die Wissenschaftlichen Bibliotheken sind an Hochschulen und anderen wissenschaftlichen Einrichtungen angesiedelt. Sie werden im Rahmen dieses Texten nicht behandelt. Nicht behandelt werden außerdem die unterschiedlichen Spezialbibliotheken wie Schul-, Gefängnis-, Parlaments-, Truppen- oder Gerichtsbibliotheken und ähnliche Einrichtungen. Ebenso fallen die, zumindest im Bereich der Forschung als eigenständiges Feld etablierten, Digitalen Bibliotheken aus dieser Untersuchung heraus. Es sollen hier einzig die für die allgemeine Öffentlichkeit bestimmten Bibliotheken behandelt werden.
Aktuell existieren in Deutschland, außer allgemein gültigen Gesetzen, keine verbindlichen Regelungen für diese Einrichtungen.[1] Die Errichtung, der Betrieb und die Unterhaltung von Öffentlichen Bibliotheken ist eine freiwillige Aufgabe der Kommunen. Eine große Anzahl von Kommunen verzichtet auf solche Einrichtungen. Zudem haben sich zahlreiche Misch- und Sonderformen etabliert, beispielsweise von Vereinen betriebene oder im Auftrag der Kommunen von religiösen Einrichtungen getragene Bibliotheken. Darüber hinaus unterhalten alle Länder Landesbibliotheken, welche besondere Ausgaben wahrnehmen. Der Bund unterhält die Deutsche Nationalbibliothek.[2]
In Berlin werden die Bibliotheken von den Stadtbezirken getragen und betrieben, wobei in jedem Bezirk eigenständige Bibliothekssysteme, mit teilweise weitreichenden Unterschieden, existieren. Zudem unterhält das Land Berlin die Zentrale Landesbibliothek.[3]
Die Aufgaben der Bibliotheken sind, da kein Bibliotheksgesetz vorliegt, auf das sich berufen werden könnte, unterschiedlich definiert. Bibliotheken werden in unterschiedlichen Zusammenhängen als Einrichtungen erwähnt. Dabei lassen sich allerdings einige Schwerpunkte erkennen. Öffentliche Bibliotheken gelten zumeist als Einrichtungen, welche die Bildung gerade von Kindern und Jugendlichen unterstützen, wobei Bildung oft auf die allgemeine und funktionale Alphabetisierung und das Lesenlernen reduziert wird. Außerdem gelten sie als soziale und kulturelle Einrichtung, in denen Räume zur Gestaltung der Freizeit, hierbei wiederum hauptsächlich für Kinder und Jugendliche, angeboten werden. Dabei wird insbesondere bei Bibliotheken, welche in sozial schwierigen Gebieten liegen, die sozial integrative Funktion hervorgehoben.
Gleichzeitig sollen Bibliotheken durch ihr Angebot an gezielt erworbenen Medien den Zugang zu Kultur, eigenständig bestimmten Lernprozessen und im Alltag notwendigem Wissen ermöglichen. Gerade im US-amerikanischen Kontext wird auch auf die demokratisierende Funktion, die Bibliotheken haben sollen, verwiesen. Dabei gelten Bibliotheken unter anderem als Raum, in den es möglich sei, Selbstbewusstsein zu entwickeln und Toleranz zu üben.
All diese Vorstellungen und Anforderungen an Bibliotheken basieren auf der Grundüberlegung, dass Bibliotheken einen Ort darstellen, an dem jede Bürgerin und jeder Bürger ohne Restriktion Zugang zu Informationen, Medien und einem Raum erhält, welcher eine Bildungsatmosphäre bietet. Auch wenn bekannt ist, dass hauptsächlich aufgrund fehlender Finanzmittel, der Umsetzung dieser Ansprüche Grenzen gesetzt sind, verstehen sich Öffentliche Bibliotheken doch allgemein als Einrichtungen, in denen grundsätzlich alle Menschen freien Zugang zu allen benötigten Informationen erhalten können und gleichzeitig einen Ort gestellt bekommen, der die Aufnahme und Verarbeitung dieser Informationen ermöglicht.
All diese Funktionen kann ein Bibliothek allerdings nur erfüllen, wenn sie auch tatsächlich die gesamte Bevölkerung erreicht. Dabei ist bekannt, dass dies nicht immer funktioniert und es oft besonderer Anstrengungen bedarf, um gerade marginalisierte Teile der Bevölkerung zur Nutzung der Bibliothek zu ermutigen.
Forschungen zu den Wirkungen Öffentlicher Bibliotheken
Wie erwähnt, liegen zu den Wirkungen Öffentlichen Bibliotheken in Deutschland kaum belastbare Untersuchungen vor. Dies ist auch dem uneinheitlichen Bibliothekssystem zu verdanken.
Im Flamischen Teil Belgiens hingegen, der ansonsten in vielem mit Deutschland zu vergleichen ist, ist das Bibliothekssystem relativ einheitlich gestaltet. Dank einer 1978 erlassen Regelung ist jede Kommune verpflichtet, eine Öffentliche Bibliothek einzurichten und zu unterhalten. In einer Anfang 2007 veröffentlichten, groß angelegten Studie wurden die sozialen Effekte dieses Bibliothekssystems untersucht.[4] Das Ergebnis dieser Studie bestätigt empirisch schon länger geäußerte Vermutungen. Entscheidend für die regelmäßige Nutzung einer Öffentlichen Bibliothek ist hauptsächlich der Bildungshintergrund einer Person. Dies gilt unabhängig von allen anderen Faktoren. So haben 22,9% der Bevölkerung in Flandern einen Hochschulabschluss, aber 53,5% der Nutzerinnen und Nutzer von Bibliotheken. Gleichzeitig haben 23,8% der Bevölkerung keinen oder den geringsten Schulabschluss, aber nur 4,6% der Nutzenden von Öffentlichen Bibliotheken. Ähnlich, wenn auch nicht ganz so eng, ist der Bezug von Armut und Bibliotheksnutzung. Je ärmer die Menschen sind, umso seltener und geringfügiger ist ihre Inanspruchnahme von Bibliotheken. Gleichzeitig haben große Bibliotheken weit mehr Nutzerinnen und Nutzer, als kleinere. Dabei ist diese ungleiche Verteilung nicht proportional zur Größe der Einrichtungen.
Bibliotheken haben, so die zusammenfassende Wertung der Studie, nicht per se einen positiven gesellschaftlichen Effekt. Wenn sie nicht explizit in ihrem jeweiligen Umfeld verankert sind und gegen den Effekt arbeiten, hauptsächlich Menschen mit hohem Bildungsabschluss und größerem gesellschaftlichen Einfluss anzusprechen, reproduzieren sie offenbar die gegebenen sozialen Ungleichheiten. Gerade bei großen Bibliotheken, oft mit überregionalem Ausgabenfeld, zeigt sich, dass Menschen, die aufgrund ihrer hohen Bildung bessere gesellschaftliche Chancen haben, weitere Wege auf sich nehmen, um Bibliotheken zu nutzen, als Menschen mit niedrigerem Bildungsabschluss. Dabei gilt auch in Belgien, dass es einen engen Zusammenhang zwischen Bildungsabschluss und Einkommen gibt. Je niedriger der Abschluss, umso eher sind die Menschen arm.
In einer Studie zur Nutzung US-amerikanischer Bibliotheken[5], welche 2006 erschien, wurde unter anderem überprüft, wie sich die Entfernung zur nächsten Bibliothek auf die Nutzung derselben auswirkt. Hierbei bestätigte sich wieder einmal, dass eine Bibliothek umso seltener genutzt wird, je weiter sie entfernt ist. Liegt sie nicht weiter als eine Meile (1609 Meter) entfernt, wird sie fast doppelt so oft besucht, als wenn sie zwischen einer und zwei Meilen entfernt ist. Außerdem erhöht die Anwesenheit von Kindern im Haushalt die Nutzung von Öffentlichen Bibliotheken signifikant.
Diese beiden Ergebnisse werden, auch dank der relativ umfangreichen Bibliotheksstatistiken in den USA, seit Jahrzehnten immer wieder empirisch fundiert nachgewiesen.
Ein Problem bei der Bestimmung der Bibliotheksnutzung ist, nicht nur in Deutschland, die Konzentration auf einfach zu erfassende Werte. Hauptsächlich wird die Anzahl der Medien, die Ausleihen, die angemeldeten Nutzerinnen und Nutzer und sich daraus ergebende Schnittmengen (beispielsweise Ausleihen pro Person, Ausleihen pro Medium im Jahr) benutzt, um die Effektivität von Bibliotheken zu bestimmen. Dabei ist ein Großteil der Angebote in Bibliotheken, gerade solche, die von Minderheiten genutzt werden, nicht in solchen Zahlen erfasst. Wiederum eine US-amerikanische Studie fasste dies 2005 noch einmal zusammen: Die Effektivität von bibliothekarischen Angeboten in normalen Öffentlichen Bibliotheken hängt hauptsächlich davon ab, wie gut diese auf ihre potentiellen Nutzerinnen und Nutzer abgestimmt sind.[6] Je mehr sich eine Bibliothek auf ihr Umfeld einlassen kann, umso besser kann sie auch solchen Menschen Angebote machen, die nicht von sich aus eine Bibliothek nutzen würden.
Dabei ist es auch notwendig, diesen Personen überhaupt den Sinn einer Bibliotheksnutzung vermitteln zu können. Wie jede andere freiwillige Aktivität muss der Besuch von Bibliotheken für die einzelnen Individuen zuvorderst persönlichen Sinn machen. Gerade für bildungsferne Schichten oder Menschen, die mit Bibliotheken wenig Positives verbinden, ist das allgemeine Bildungs- und Informationsangebot, welches Bibliotheken bieten, dabei nicht ausreichend. Insbesondere hier müssen Angebote greifen, die für diese Menschen sinnvoll erscheinen. Dabei sind Bibliotheken, welche auf einen möglichst kleinen Raum bezogen arbeiten können im Vorteil gegenüber größeren Bibliotheken, die eine große und vielfältige Kundschaft bedienen müssen.
Öffentliche Bibliotheken als soziale Räume
Obwohl sie sich schon länger stellte, wurde sich erst letztlich mit einem Sammelwerk auch in Deutschland der Frage zugewandt, wie Bibliotheken als Öffentliche Orte wirken und wie sie wirken sollen.[7] Dieses Thema ist allerdings auch im internationalen Kontext kaum bearbeitet. Wenig ist darüber bekannt, was Nutzerinnen und Nutzer in Bibliotheken eigentlich genau tun. Zwar gibt es dazu ein breites Erfahrungswissen des Bibliothekspersonals, aber keine systematische Erfassung dieses Wissens. Dies liegt auch daran, dass es weit einfacher ist, eine klar bestimmten Nutzung zu messen, beispielsweise die Buchausleihen oder auch die positiven Antworten in einer Umfrage, als das tatsächliche Verhalten von Menschen.
Lisa M. Given und Gloria J. Leckie untersuchten mit einer komplexen ethnologische Methode 2003 zwei große kanadische Bibliotheken im Hinblick auf deren Nutzung.[8] Angesichts der, im Gegensatz zu Deutschland, großzügigen Ausstattung des kanadischen Bibliothekswesens ist große Vorsicht bei der Übernahme ihrer Ergebnisse geboten. Es zeichnet sich aber ab, dass den allgemein Öffentlichen Bibliotheken zugesprochenen Aufgaben, wie der Unterstützung von Bildungsprozessen und der Bereitstellung von Informationen eine große, aber lange nicht so überwältigende Aufgabe zukommt, wie gemeinhin angenommen wird. Der soziale Kontakt zwischen den Nutzerinnen und Nutzern, die persönliche Kommunikation in einem relativ geschützten sozialen Raum und die freie Gestaltung von Freizeit sind weit öfter zu beachten, als die relativ seltene Thematisierung solcher Funktionen erwarten lassen würde. Interessant erscheint dabei auch, dass der beiden Tätigkeiten Lesen und Schreiben, welche wohl am ehesten zur Bildungs- und Informationsfunktion von Bibliotheken zu zählen sind, bei Menschen über 30 Jahren eine weit größere Bedeutung haben, als bei Menschen unter 30. Insbesondere junge Menschen nutzen offenbar die Bibliothek auch als Ort der Kommuniaktion und Freizeitgestaltung. Dabei sind gerade solche zentralen Bibliotheken, wie die von Given und Leckie untersuchten, durch ihre Größe oft der Hauptanlaufpunkt bei konkreten Informationsbedürfnissen und Bildungsinteressen. Es ist zu erwarten, dass diese Funktionen in kleineren Bibliotheken noch seltener nachgefragt und stattdessen in ihnen auf angedeuteten sozialen Funktionen stärker zurück gegriffen wird.
Dass eine Bibliothek auch eine wichtige Funktion beim Aufbau eines Gemeinschaftsgefühls im kommunalen Rahmen haben kann, beweist die Bibliothek in der ländlichen Kommune Kitengesa in Uganda.[9] Wobei bei der Übernahme dieser Erfahrungen noch weit mehr Abstriche gemacht werden müssen, als bei den anderen erwähnten Studien. Dennoch sind die Erfolgskriterien, welche beim Aufbau diese Bibliothek relevant waren, bedeutsam für die Frage, welche Funktion Bibliotheken haben oder haben können.
Der Aufbau erfolgte mit der intensiven wissenschaftlichen Unterstützung einer Professorin der City University of New York, wurde aber getragen von Aktiven von Ort. Diese führten vor der Etablierung der Bibliothek intensive und methodisch unterschiedlich angelegte Befragungen zu den Informationsbedürfnissen der Bewohnerinnen und Bewohner durch und etablierten anschließend die Bibliothek, um die festgestellten Bedürfnisse zu erfüllen. Nun sind diese Interessen zwar spezifisch auf die Situation einer kleinen Gemeinde in einem ärmeren afrikanischen Land zugeschnitten[10], zeigen aber, dass eine Ausrichtung auf die Bedürfnisse der jeweilige Gemeinschaft, eine Bibliothek zu einer erfolgreichen und gesellschaftliche Prozesse unterstützenden Institution werden lassen. Die Bibliothek in Kitengesa ist heute eine erfolgreich arbeitende Einrichtung, weil sie sich an ihrem Umfeld orientiert und weil ihr Personal es geschafft hat, Vertrauen zu erwerben und ihre Angebote zu kommunizieren.
Wichtig ist auch die Erkenntnis, dass es öfter die "gefühlten" Ergebnisse sind, welche durch Bibliotheken erreicht werden, und weniger solche, die empirisch abgesichert werden können. In einem Versuch untersuchten zum Beispiel im Schuljahr 2004/2005 Bibliothekarinnen in Schleswig-Holstein die Wirkung von bibliothekarischer Leseförderung von Grundschulklassen.[11] Ein messbarer Erfolg konnte dabei nicht nachgewiesen werden. Dennoch zeigte die Förderung bei den Kinder Wirkungen, wie die größere Identifikation mit dem Lesen, die Etablierung von Lesen als Freizeitbeschäftigung, eine gesteigertes Selbstbewusstsein und eine erhöhte Sprachfähigkeit, was vom Lehrpersonal der Klassen begrüßt wurde.
Wirkungen von Schließungen kleinerer Öffentlicher Bibliotheken
Öffentliche Bibliotheken, so lassen sich die hier darlegten Erkenntnisse zusammen fassen, haben eine Funktion für die Gemeinschaften, in denen sie existieren, wenn sie deren Informationsbedürfnisse erkennen und befriedigen können. Dabei haben sie weit über die Bildungs- und Informationsfunktion hinausgehende soziale Funktionen.[12] Wir wissen wenig darüber, wie Öffentliche Bibliotheken genutzt werden, wir können aber begründet vermuten, dass hauptsächlich kleinere Bibliotheken nicht primär wegen ihrer Bildungsfunktion genutzt werden. Diese Funktion erfüllen größere Bibliotheken besser. Eher werden kleinere Bibliotheken aus vielfältigen Gründen genutzt und bieten den Nutzenden darüber hinaus Informationen und Lernmedien an.
Dies ist insbesondere für die Frage relevant, ob für Großstädte mehrere kleinere oder einige größere Bibliotheken sinnvoll sind. Diese Frage stellt sich in Deutschland aufgrund der strukturellen Unterfinanzierung der Kommunen – in Berlin der Bezirke – beständig. Oft wird dabei von verantwortlicher Stelle argumentiert, dass für die Nutzung von Bibliotheken ein mehr oder minder größerer Anfahrtweg zumutbar sei und deshalb die Schließung von kleineren Filialen, wie beispielsweise seit den 1990er Jahren regelmäßig im heutigen Marzahn-Hellersdorf praktiziert oder die Abschaffung von Bücherbussen, wie Anfang 2007 in Neukölln, zu verkraften sei. Angesicht der in diesem Text dargelegten bibliothekswissenschaftlichen Ergebnisse, verbunden mit allgemeinen Erkenntnissen der Stadt- und Bildungssoziologie, lässt sich dem widersprechen.
Für einen Teil der Funktionen von Bibliotheken scheinen den Nutzerinnen und Nutzern längere Wege akzeptabel. Wenn Bibliotheken hauptsächlich als Orte verstanden werden, bei denen für Lernprozesse benötigte Bücher ausgeborgt werden oder in denen Lernprozesse stattfinden, scheint der längere Weg vertretbar. Dann werden sie offenbar als Orte verstanden, die aufgesucht werden müssen. Bei allen anderen Funktionen von Bibliotheken ist dies nicht so einfach zu bestimmen. Schon bei der Frage, ob für die Freizeitgestaltung Medien aus der Bibliothek ausgeborgt werden, anderswie erworben oder gar nicht benutzt werden sollen, spielt die Entfernung und die Zugänglichkeit zu Bibliotheken ein große Rolle.[13]
Dabei ist es falsch, einfach von der realen Wegstrecke auszugehen, welche zurück gelegt werden muss. Gerade im Bereich von Großstädten und in der Wahrnehmung von Kindern und Jugendlichen gliedert sich eine Stadt in unterschiedliche Kieze und deren Einrichtungen. Diese Erkenntnis wird seit langem sowohl von der Ethnologie als auch von der Stadtsoziologie gestützt und beispielsweise mit dem Konzept des Quartiersmanagement oder von Kiezläden politisch genutzt, um die Lebensqualität in Großstädten zu verbessern.[14] Entscheidend ist – auch bei der Benutzung von Bibliotheken – oft nicht, wie groß die zurückzulegende Strecke ist, sondern welche Wahrnehmung von einem Kiez und den dortigen Einrichtungen bestehen.
Wenn es auch immer wieder regionale und zeitliche Besonderheiten in der Ausprägung und Wahrnehmung von Kiezen gibt, lassen sich doch einige Trends festhalten. Je höher der Bildungshintergrund einer Person ist, je höher ihr ökonomischer Status und je liberaler seine allgemeine Einstellung, um so eher überwindet sie die Grenzen unterschiedlicher Kieze, hält sich allgemein in mehreren Kiezen auf und nutzt deren kulturellen, sozialen und anderen Angebote. Umgekehrt sind es eher Menschen mit geringen Bildungshintergrund und sozialem Status, die sich in nur einem oder wenigen Kiezen aufhalten, für die es auch schwierig ist, neue Kieze und deren Angebote zu nutzen. Hinzu kommt, dass es für zahlreiche Menschen aufgrund ihrer eingeschränkten Bewegungsfähigkeit und aufgrund einer realen oder gefühlten Ausgrenzung schwierig ist, andere Kieze zu nutzen und zu entdecken. Eingeschränkte Bewegungsfähigkeit bezieht sich dabei nicht nur auf körperliche Einschränkungen, zum Beispiel aufgrund von Krankheit oder Alter, sondern auch darauf, ob kleinere Kinder zu betreuen sind, ob die Nutzung des Öffentlichen Personennahverkehrs oder eines PKWs ökonomisch zu tragen ist oder aber eine spürbare Belastung darstellt. Die gefühlten und realen Ausgrenzungen aus Kiezen sind mithin diffiziler und oft auch schwieriger nachzuvollziehen, insbesondere von Entscheidungsträgerinnen und -trägern, die selber nicht unbedingt zu den marginalisierten Gruppen der Gesellschaft gehören. Dennoch sind die wirksam.[15]
Barrieren bei der Bibliotheksnutzung
Institutionell
- Öffnungszeiten
- Personal mit negativer Ausstrahlung und Einstellung
- Regeln und Vorschriften
- Anschaffungs-/Bestandspolitik
- Fehlen ansprechender Architektur
- Unzureichende Auszeichnung/grafische Leitsysteme
- Unzureichende Vorsorge für Menschen mit Einschränkungen (disablities)
- Zu kurzfristige Finanzierung (short-term funding)
- Fehlen eines differenzierten Medienbestandes
- Zu komplexer Sprachstil
- Keine Kommunikation der Angebote bei gesellschaftlich ausgegrenzten Zielgruppen
- Orientierung des Bibliotheksbetriebes auf statistische Zahlen und nicht auf individuelle Menschen
- fehlendes Wissen über das lokalen Umfeld
- Alibihandlungen, statt zielorientierter Politik
- Fehlen von Ausstattung wie Toiletten, Wickelräume etc.
- Fehlende Nachhaltigkeit
Soziale Barrieren
- Geringes Einkommen und Armut
- Fehlen von Grundkompetenzen
- Lernprobleme
- Direkte und indirekte Diskriminierungen
- Geringes Selbstbewusstsein und Vertrauen
- Kein permanenter Wohnsitz
Wahrnehmung / Bewusstsein: "Keine Einrichtung für uns"
- Menschen, die isoliert von der restlichen Gesellschaft leben
- Keine Wahrnehmung, dass Angebote für einen selbst sinnvoll wären/sein könnten
- Menschen, die sich eine Relevanz von Bibliotheksangeboten für ihr Leben nicht vorstellen können
- Bibliotheken, die hauptsächlich als reine Bildungseinrichtungen und nicht als sozialer Raum verstanden werden
- Personal, dass als (abgelehnte) Autoritätspersonen verstanden werden
Umfeld
- Isolation, beispielsweise im ländlichen Raum
- schlechte Zugänglichkeit (Lage, Öffentlicher Personennahverkehr)
- Problematisches Umfeld und urbaner Verfall
- Standort und Sichtbarkeit
- Erscheinungsbild des Bibliotheksgebäudes
Aus: Parker, Sandra / The performance measurement of public libraries in Japan and the UK. - In: Performance Measurement and Metrics, 7 (1) 2006, pp. 29-36
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Gerade in der Zeit der ersten New Labour Regierung (1997-2001) beschäftigten sich in Großbritannien zahlreiche Initiativen mit diesem Problem. In ihrem grundlegenden und einflussreichen Bericht über soziale Ausgrenzung im Bezug auf Öffentliche Bibliotheken, kam dabei eine Arbeitsgruppe im Auftrag des Council for Museums, Archives and Libraries zu dem harten Schluss, dass Bibliotheken, wenn sie soziale Barrieren nicht thematisieren, nur vordergründig für alle offen seien, während sie gleichzeitig an der Reproduktion und Verfestigung dieser Barrieren Anteil hätten.[16] Sandra Parker hat, in Zusammenfassung einer komplexeren Studie, die im hier dargestellten Kasten aufgezählten Barrieren für eine Bibliotheksnutzung identifizieren können. Sichtbar ist bei diesen, dass ein Teil dieser Barrieren von der Bibliothek nicht direkt zu beeinflussen ist, ein anderer Teil aber durch die Arbeit des Personals überwunden oder zumindest vermindert werden kann. Dazu aber muss das Personal sich auf das jeweilige Umfeld einstellen und in bestimmten Maße auch dessen Teil werden können.
Dabei ist klar, dass, wenn Personen erst einmal die sie betreffenden Grenzen nachhaltig überwunden haben, sie damit auch in die Lage versetzt werden, andere Angebote von Bibliotheken wahrzunehmen.
Zusammenfassend kann man sagen, dass eine Verlegung oder Schließung einer kleineren Öffentlichen Bibliothek gerade die Personen trifft, welche in der Gesellschaft vor größere Schwierigkeiten gestellt werden. In einer langfristigen Perspektive verschlechtert sich damit deren Position in der Gesellschaft. Gleichzeitig verbessert in dieser Perspektive eine solche Schließung die Position der Menschen, welche einer Bibliotheksbenutzung aufgrund ihrer Erfahrung und ihres gesellschaftlichen Umfeldes aus eigenem Antrieb eine hohe Bedeutung zumessen und deshalb auch von sich aus längere Wege, dass heißt Wege aus dem eigenen Lebensumfeld heraus, auf sich nehmen, nachhaltig. Die Schließung gerade kleinerer Bibliotheken oder aufsuchender Bibliotheksarbeit, beispielsweise mit Bücherbussen, trifft Personen unterschiedlich.
Zwei Themen mögen dies nochmal verdeutlichen. Ein Problem der Menschen mit geringem Bildungshintergrund sind bekanntlich oft schlechte Bildungserfahrungen. Das Lernen in der Schule wurde von ihnen meist als Zwang erlebt, zudem zeichnet sich in der längeren Lebensperspektive für sie oft auch kein persönlicher Sinn von Lernleistungen ab. Bibliotheken bieten ihnen einen Raum, in welchem eigenständige Bildungsprojekte durchgeführt werden können, ohne unbedingt an die negativen Schulerfahrungen anzuschließen. Eine solche Bildung ist, auch wenn sie sich nicht unbedingt ökonomisch positiv niederschlägt, für die gleichberechtigte Teilnahme an der Gesellschaft und die Gestaltung des eigenen Lebens notwendig. Der direkte Zugang zu Bibliotheken, in denen sich diese Menschen akzeptiert und nicht ausgegrenzt fühlen, ist eine der prädestinierten Möglichkeiten zur freiwilligen Aufnahme solcher Anstrengungen. Dazu muss eine Bibliothek allerdings auch als eine solche Einrichtung funktionieren können. Menschen mit einer hohen Bildungsaffinität haben dieses Problem weniger. Sie haben oft keine wirklich schlechten Bildungserfahrungen, wenn doch haben sie diese überwunden. Zudem fühlen sie sich in großen Bibliotheken auch nicht unbedingt ausgegrenzt. Sie nutzen Bibliotheken eher als Teil eine Bildungsinfrastruktur und weniger als Teil eines Kiezes.
Ein anderes Thema sind Familien mit Kindern. Auch hier liegen bisher wenige Erkenntnisse darüber vor, wie diese Bibliotheken nutzen. Nichtsdestotrotz sind gerade Kinder eine der Hauptzielgruppe von Öffentlichen Bibliotheken und zwar auch wegen der positiven und für Bibliotheken ermutigenden Erfahrungen mit ihnen. Für sie existieren in den meisten Bibliotheken spezielle Bestände, teilweise eigene Teilbibliotheken und zudem zahlreiche Einzelangebote. Nun sind Familien – in welcher Konstellation auch immer – mit kleineren Kindern in ihrer Bewegungsfähigkeit eingeschränkter, als Singles oder vergleichbare Familien ohne Kinder. Ihre Freizeitgestaltung ist tendenziell mehr durchplant, ihre Wege kürzer und unflexibler. Sie sind angewiesen auf leicht zugängliche und wohnortnahe Einrichtungen. Die Verlegung oder Schließung einer solchen Einrichtung wirkt deshalb für sie spürbarer, als sie andere Personen betrifft.
Dabei ist die Bedeutung der Bibliotheksarbeit für Kinder und Familien nicht zu unterschätzen. Gemeinhin wird gerade diese als eine Hauptaufgaben von Öffentlichen Bibliotheken angesehen. Und dies durchgängig in verschiedenen Staaten, politischen System und Gesellschaften. Aktuell setzen sich im internationalen Kontext Bibliotheken verstärkt damit auseinander, ob über die funktionale Alphabetisierung der Kinder hinaus, nicht auch Eltern, beispielsweise durch spezielle Medienbestände oder in Zusammenarbeit mit staatlichen Stellen und gesellschaftlichen Initiativen, bei ihrer Familienarbeit unterstützt werden können. Gerade in Einwanderungsgesellschaften scheinen Medienangebote für Kinder und Jugendliche auch dazu beizutragen, die Integrationspotentiale ganzer Familien zu verbessern.[17]
Die Wirkung jeder Bibliothek lässt sich hinterfragen und verbessern. Aber es sollte in diesem Text offensichtlich geworden sein, dass die Verlegung oder Schließung einer funktionierenden Bibliothek in einem Kiez oft weit höhere soziale Kosten hat, als sich mit den Spareffekten solcher Verlegung und Schließungen begründen lässt. Gerade im Bezug auf die nachhaltige Entwicklung eines Kiezes und der gesamten Gesellschaft ist eine solche Schließung problematischer, als dies auf den ersten Blick erscheint.[18] Nicht zuletzt, da gerade kleinere Bibliotheken immer auch einen hohen Identifikationsfaktor ihrer Nutzerinnen und Nutzer zeitigen, der hilft, diese an den jeweiligen Kiez zu binden und ihnen zumindest teilweise das Gefühl gibt, für diesen mit verantwortlich zu sein. Diesen Effekt können größere Bibliotheken – welche ihre eigenen Vorteile haben – kaum hervorbringen.
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