Zugänge zu Sys
Einleitung
BETH V. LINKLATER weist in ihrem Buch über die Konstruktion der Sexualität in der DDR-Literatur darauf hin, dass die Texte GABRIELE STÖTZERS [1] beständig von deren Biographie her gelesen werden. Dies führe dazu, weder ihre Texte, noch die Autorin ernst zu nehmen. [2] Diese insistiert selbst darauf, dass ihre Protagonistinnen immer eine Figur darstellen würden und nicht autobiographisch zu deuten seien. [3]
Diesem Einwurf nachgebend wird im Folgenden am ersten einer größeren Öffentlichkeit bekannt gewordenen Text STÖTZERS, SYS, der Versuch gemacht mittels einer hermeneutischen Analyse zu einer anderen Aussage zu gelangen, als über einen autobiographischen Zugang. Sollte dies gelingen, so könnte eventuell eine bisher unbeachtete Bedeutungsebene in den Texten der Autorin aufgezeigt werden. Zudem wären die Differenzen zwischen dieser und den bisherigen Deutungen zu erklären.
Im ersten Teil dieser Arbeit wird deshalb eine möglichst weit reichende und tiefgehende Untersuchung des Textes geleistet. Nach der formalen Analyse sollen dazu einige auffällige Einzelaspekte einer genaueren Betrachtung unterzogen werden. Erst anschließend wird der Text mit dem Wissen um die Biographie GABRIELE STÖTZERS, der allgemeinen Literaturgeschichte, sowie der Forschung über Literatur in der DDR konfrontiert. Dabei wird vor allem interessieren, dass sie oft als Feministin bezeichnet wurde. Zu fragen ist, was genau das in diesem Fall heißen soll, welche Strömung des Feminismus STÖTZER vertritt und welche Anzeichen für feministisches Denken sich in SYS finden lassen. Zudem wurde immer wieder eine Haftstrafe als Initialmoment für STÖTZERS Arbeit beschrieben. Es soll deshalb im zweiten Teil eine feministische, im dritten eine autobiographische Deutung von SYS versucht werden. Zudem wird zu fragen bleiben, in welcher Form das Leben und die Arbeit im literarischen und künstlerischen Untergrund der DDR Einfluss auf STÖTZERS Schreiben hatte.
Für den Schlussteil wird die Frage zu beantworten sein, welche Differenzen sich zwischen einer hermeneutischen, einer feministischen und einer autobiographischen Analyse ergeben.
1. Hermeneutischer Zugang
1.1 Formaler Aufbau
Mit SYS legte GABRIELE STÖTZER einen kurzen Prosatext vor, der weder sprachliche, noch hervorstechende formale Experimente aufweist. [4] Die hervorzuhebenden Besonderheiten lassen sich auf inhaltlicher Ebene, und dort vor allem in den verwendeten Bildern finden.
Eine formale Besonderheit ist Ergebnis der unzureichenden Druckfassung der vorliegenden Ausgabe der Anthologie BERÜHRUNG IST NUR EINE RANDERSCHEINUNG. [5] Während der Beitrag STÖTZERS als ein Text erscheint, besteht er aus drei. Die letzten Beiden, welche offenbar mit dem Ersten im Zusammenhang stehen, erhielten keine Überschrift und wurden mit dem ersten Text zusammengefügt. [6]
Allerdings sind diese Texte in der wirkungsmächtigen Ausgabe der Anthologie als ein Text überliefert worden und entfalteten auch in dieser Form ihre Wirkung. [7] Hier soll allerdings der Intention der Autorin gefolgt und nur der erste Text betrachtet werden.
SYS wird von einer auktorialen Erzählinstanz dargelegt, welche dahingehend einzuschränken ist, dass sie nur vom Innenleben der Protagonistin KARLA berichtet. Alle anderen Beschreibungen bleiben an der Oberfläche der Figuren, so dass der Eindruck entsteht, den Bericht KARLAS zu lesen, die sich selbst entindividuiert, und gleichsam die Position des – wie es bei DONNA HARRAWAY heißt – anspruchslosen Zeugen zu sich selbst einnimmt. [8] Auffällig ist dabei der zurückhaltende, beschreibende Gestus, welcher den geschilderten Emotionen Karlas entgegensteht, ansonsten allerdings die Beziehungen zwischen den Figuren widerzuspiegeln scheint.
Trotz dieses kühlen Gestus gelingt es durch einige bildliche Beschreibungen der Erzählung einen vorwärtstreibenden Charakter zu geben. Diese sind ohne Abgrenzung im Text zu finden. Allgemein ist festzustellen, dass einzig Absätze zu Strukturierung eingesetzt wurden. Sprachliche Rede ist nicht vorhanden und die Beschreibungen des Erlebens der Protagonistin unterscheiden sich formal nicht von den restlichen Schilderungen.
Gerade durch das Vorhandensein unterschiedlicher traumartiger Sequenzen ist dies auffällig. Es wird mittels formaler und sprachlicher Mittel ein Ineinanderfließen von Realität und Traum geschildert.
1.2 Inhaltlicher Aufbau
Gegliedert ist der Text in zwei aufeinander bezogene Teile. Im ersten finden sich vier Transformationen des Körpers. Abgeschlossen wird dieses Stück durch ein retardierendes Moment.
1.2.1 Retardierendes Moment
Karla entscheidet sich für eine Minute, diesen Weg nicht mehr zu gehen […]. [9]
Hier schließt der zweiten Teil an, in dem unterschiedliche Positionen zu Frauen, einem Mann und das Verhältnis zur Liebe geklärt werden. Das Ende bildet eine veränderte Version des retardierenden Moments.
Wie gesagt, Karla entscheidet sich für eine Minute diesen Weg nicht mehr zu gehen […]. [10]
Diese zweite Version deutet einen Erfahrungszuwachs an. Hatte sich Karla zum Zeitpunkt des ersten Moments nur entschieden, so wird beim zweiten Vorkommen auf die schon getätigte erste Erwähnung angespielt. Der nähere Blick in die beiden Fassung und deren textuelles Umfeld offenbaren weitere Differenzen. Während die erste die beiden Teile der Erzählung verbindet und einen Moment der Reflektion eröffnet, beendet die zweite den Text. Beide Male verstößt die Protagonistin gegen ihre getroffene Entscheidung, „diesen Weg nicht mehr zu gehen.“ [11] In der ersten Version ist dieser Bruch in einer Weise dargestellt, die Karla als reines Objekt erscheinen lässt. Es wird der Raum beschrieben, welcher Karla anzieht, sie sowohl emotional entleert [12], als auch gleichzeitig offenbar Macht über ihre eigenen Gedanken hat [13]. Dagegen wird in der zweiten Variante der Bruch als persönliche Entscheidung der Protagonistin gezeichnet. Der Raum ist aus der Erzählung verschwunden, es existiert nur noch die Treppe, welche keine spezifische Kraft zu haben scheint.
KARLA scheint eine größere Macht gewonnen zu haben, auch wenn sie dies nicht zu einer anderen Entscheidung führt. Der diskursive Raum zwischen den beiden Textteilen scheint der zwischen Fremd- und Eigenbestimmung zu sein, ohne das die Selbstbestimmung zu einer signifikanten Änderung oder gar zur Befreiung führt.
Auffällig ist dabei, dass dem letzten retardierenden Moment keine beschriebene Handlung mehr folgt. Dies deutet die ununterbrochene Wiederholung der beschriebenen Szene an.
1.2.2 Teil 1: Transformationen
Im ersten Teil des Textes finden vier Transformationen des Körpers der Protagonistin statt. [14] Es sind dies „die Spanierin“, „die Bäuerin“, „die Jüdin“, sowie die Prostituierte. [15] Mit diesen werden durch den Text Klischees aufgerufen, die vor allem unterschiedliche Körperbilder repräsentieren.
Wie genau diese Transformationen sich ereignen bleibt ungeklärt. „Dann verwandelt sie sich […]“ [16] oder „[…] eine nächste löst sich aus ihr […]“ [17] sind die konkretesten Beschreibungen dieses Vorganges. Es findet zudem keine Interaktion mit der Außenwelt auf diese Transformationen hin statt. Zwar reagiert KARLA auf ihre Umgebung, diese aber verweigert sich. Der erste Körper löst sich auf, weil „niemand auf sie wartet“ [18].
Zu erwähnen ist, dass alle vier Körper offenbar KARLAS eigene sind. Sie werden nicht als auf den Originalkörper aufgesetzt oder ihm übergestülpt gezeichnet, sondern aus ihm heraus entwickelt. Zudem ist diese Produktion nicht als gewollte oder direkt Gesteuerte zu lesen. Sie erfolgt eher mechanisch, angetrieben von dem nicht Stattfinden einer Kommunikation.
Dabei ist ein Niedergang der sexuellen Selbstbestimmung zu konstatieren. Der erste Körper, die Spanierin, wird als exzessiv sinnlich beschrieben, der sich im Spannungsfeld von Tod und Erotik bewegt. Er ist Katze und Tiger zugleich. [19] Der zweite Körper, die Bäuerin, ist enterotisiert, aber trotzdem als selbstbewusst gezeichnet. Es gibt zwar keine Verführungskraft, wie bei der Spanierin, dennoch ein klares, einfaches Körpergefühl. Mit dem dritten Körper, der Jüdin, wird ein vollständig hilfloses, sakralisiertes Wesen dargestellt. [20] Nach diesem Bild des Verlustes folgt die letzte Selbstaufgabe, die Transformation zur Prostituierten.
Karla hat jetzt keine Figuren mehr, Karla hat sich, für einen Moment, dann sprudeln sie wieder aus ihr heraus, diese Körper aus Halbexistenz, die sie ihm anbietet, wie eine Mutter im Puff. Alle anderen vor ihr, und sie als letzte, machen die Beine breit. [21]
Das Bild der Puffmutter und Hure wird hier mit einem eigenständigen Status der Körper verbunden. Sie sind nicht vollwertig, haben offenbar einen Originalkörper als Basis nötig, den die Protagonistin allerdings nur für einen kurzen Augenblick halten kann. Anschließend verliert sie sich als Objekt der Sexualität. Jenes wird in den nächsten Sätzen weiter verstärkt, wenn davon gesprochen wird, dass es „Entwürdigung […] heute umsonst [gibt].“ [22]
Anhand dieser Linie lässt sich die Frage stellen, welche Funktion Sexualität hat. Bei der Spanierin scheint sie zum einen determinierendes Merkmal der Figur zu sein, zum anderen den Versuch einer Kontaktaufnahme zu bezeichnen. Zumindest transformiert sich der Körper, als es keine Reaktion auf ihn gibt. Bei der Bäuerin scheint es zwar keine explizit ausgesprochene Sexualisierung des Körpers zu geben, doch gleichzeitig wird auch sie anhand ihres Leibes geschildert. Er scheint das Mittel zu sein, welcher eine selbstbewusste Haltung gegenüber der Welt ermöglicht. Die Jüdin wiederum hat einen geschilderten Körper, strahlt aber keine Sexualität, sondern die Atmosphäre einer Heiligen [23] aus. Erst bei der letzten Figur, der Prostituierten, ist ein Sexualakt geschildert, dies allerdings in obszöner Weise, als Teil einer Kette von „Sexualobjekten“. Auch wenn nicht klar ist, wer „die Prostituierte“ benutzt, so bleibt festzuhalten, dass Sexualität hier als Gebrauch der Frau geschildert wird.
Schwingt also bei der Spanierin noch eine gewisse Hoffnung beim Einsatz der Sexualität mit, so ist diese bei der Jüdin ins Symbolische transzendiert. Bei der Prostituierten ist Sexualität dann Mittel der Unterdrückung, genauer der Benutzung der Frau als Objekt.
1.2.3 Teil 2: Beziehungen
Im Zweiten Teil der Erzählung werden KARLAS Weg folgend die Beziehungen von Personen dargestellt. [24] In dem Raum, in welchem die Erzählung spielt, kommen langsam Menschen. Der Ort ist einer Restauration ähnlich geschildert, mit mehreren Tischen und einer Treppe, ein öffentlicher Ort, an dem normalerweise Kommunikation stattfindet.
Hier aber bleiben die als „[m]eine Freunde“ [25] bezeichneten stumm, es ist die Rede von Verwesung und Leichengeruch [26]. Dies setzt sich auch bei der Beschreibung der „Verschmähte[n]“ fort, die als ausgelaugt, als „Marionette“ [27] bezeichnet wird. Wieder wird das Thema Kommunikationslosigkeit verhandelt. Während es im ersten Teil „die Spanierin“ zur Transformation trieb, wurde hier der Willen einer Frau getötet, was zu einer „folgsame[n] Figur“ [28] werden lässt.
Auffällig ist, dass die Tötung dieser Frau offenbar von einem Mann vorgenommen wurde, dessen Handlung im Verweigern von Liebe beschrieben wird.
Sie kann ihn jetzt überall sehen, […] Ich zerstörte einfach eine liebende Frau. Weil die Liebe aussichtslos war, musste sie gehen. Weil sie [die Frau, K.S.] sich in Verkennung der Situation verliebte, war ihre Unfähigkeit erwiesen, und damit wurde sie zur Zerstörung freigegeben. [29]
Das heißt, dass es hier nicht mehr nur um Kommunikationsverweigerung, sondern ebenso um die Geschlechterverhältnisse, sowie die Diskussion der Gefahren der Liebe geht. Diese macht offenbar tödlich verletzbar und kann deshalb als Waffe gegen die Liebende eingesetzt werden. Anscheinend wird sie dies auch.
Im nächsten Absatz wird erneut Sexualität verhandelt, diesmal allerdings als Mittel der Abgrenzung. Während Karla zu ihrem „unerreichbare[n] Geliebte[n]“ [30] geht, sitzt dieser mit ihrer Freundin zusammen in einer körperlich geschilderten Pose. Diese körperliche Nähe führt dazu, dass die beiden sich selbst genügen. Allerdings, und dies scheint für die hoffnungslose Tendenz der Erzählung bezeichnend zu sein, verspricht auch dieser Zustand keine längerfristige Erlösung. Er wird als mit beliebigen Frauen wiederholbar gezeichnet [31]. Es geht insoweit nicht um eine privilegierte Beziehung zwischen zwei Personen, sondern um einen emotionalen Vorteil des Mannes, zumindest des Einen geschilderten.
In der letzten Szene des Abschnittes löst sich die Person, die Integrität KARLAS unter dem Ansturm der Bilder auf. In einer sich steigernden Erzähllinie wird ein Riss im KARLAS Selbst, den sie angesichts der Reflektion über den Betrug ihres Geliebten mit ihrer Freundin erhält, beständig ausgeweitet, bis sie sich als ein Fluss fühlt und selber „zum anderen Ufer“ [32] treibt. Dieses Bild meint offenbar einen anderen Zustand, denn hier kann sie sich fangen und im darauf folgenden retardierenden Moment ihre Entscheidungsfähigkeit wiedererlangen.
1.3 Die Mythen
Sowohl der Titel der Erzählung, als auch der Handlungsaufbau und die geschilderten Transformationen des Körpers verweisen auf antike Mythen, auf den Mythos von SISYPHOS, sowie die METAMORPHOSEN von OVID.
Lässt sich der Titel SYS alleine als – geschlechtlich nicht markierte – Kurzform von SISYPHOS lesen, so wird diese Parallele durch das retardierende Moment, welches sowohl eine ständige Wiederholung des Vorhergehenden andeutet, als auch in seiner knappen, unemotionalen Sprache von einer fatalistischen Haltung der Protagonist zu berichten scheint, nahezu unabweisbar. Sowohl die Transformationen des Köpers, als auch das Untergehen KARLAS führen zu keiner entscheidenden Änderung der Grundhaltung der Erzählung. Zudem scheint kein Ende dieses ständigen Auf- und Absteigens in Sicht. Wie bei SISYPHOS lässt sich die geleistete Tätigkeit KARLAS als anstrengend, aber doch sinnlos beschreiben. [33]
Die METAMORPHOSEN können als eine der bekanntesten Sammlung von Erzählungen zum Thema Verwandlungen gelten. In ihnen werden, ebenso wie in der vorliegenden Kurzgeschichte, die Umformungen von Körpern beschrieben. Der Vorgang selber ist auch bei OVID fast immer mysteriös, allerdings sind die Gründe für die Transformation benennbar. Zumeist sind es bei OVID Entscheidungen der Götter, welche die Ereignisse in Gang setzen. Die Ergebnisse der Transformationen sind nicht willkürlich, sondern vermitteln jeweils eine Aussage über das Verhalten oder das Wesen der transformierten Personen. Wichtig erscheint, dass bei OVID die Personen und die Körper als Gesamtheit gesehen werden.
Beide Mythen werden in der Erzählung aufgegriffen und verarbeitet. Es finden keine Nacherzählungen statt, sondern ein Aufrufen mehr oder minder bekannter Bilder. Genauer gesagt finden sich neben den offensichtlichen keine weiteren Anzeichen dafür, dass es sich bei SYS um eine Bearbeitung der antiken Stoffe handelt. So scheint zum Beispiel die Geschichte, die zu SISYPHUS’ Strafe führte ebenso wenig zu interessieren, wie die Bedeutungen der Verwandlungen bei OVID.
1.4 Der Körper
Produktiver scheint der Blick auf das Körperbild, welches STÖTZER zeichnet. Zum einen scheinen die Körper wandelbar, zum zweiten werden sie als Ausdruck von Gefühlen und Haltungen gezeichnet und drittens gibt es auch einen Körper, der als Kern den Einflüssen zum Trotz bestehen bleibt.
Es ist zu trennen zwischen dem Körper der Protagonistin und den Körpern der anderen. Während der erste als Körpererfahrung geschildert wird, bleibt es bei den anderen beim äußerlichen Beschreiben. Trotzdem scheinen in dieser Erzählung Körper eine dominierende Rolle zu spielen. Wie schon erwähnt, werden Körper benutzt, um Wünsche, aber auch Kommunikationsverweigerungen auszudrücken.
Eigentümlich wenig ist dagegen von den Körpern selber zu lesen. Es existieren fast nur unkonkrete Beschreibungen, Stereotypen.
Allerdings finden sich zwei Ausnahmen. Nach der Reflektion über „die Liebende“ denkt KARLA, offenbar als Abwehrreaktion gegen deren Beispiel, über sich nach und benennt anschließend eine Grenzziehung gegenüber der Welt.
Alle Unfähigkeiten werden umgebracht, indem ich meine Unfähigkeiten abtöte, mache ich mich wehrsam. Ich bin selber meine feste Burg. [34]
Allerdings hat diese Begrenzung gleichzeitig die Abtötung des Körpers zur Folge, kurzerhand wird die Hand zu „ein[em] Bündel Knochen, das am Boden liegen bleibt.“ [35] Der Körper, so lässt sich daraus schließen, hat zum Funktionieren die Kommunikation mit anderen nötig, gleichzeitig ist diese Kommunikation ein potentielles sich-preisgeben, sich-verletzbar-machen.
Ein zweites Mal wird der Körper KARLAS geschildert, als sie droht unterzugehen. Angestoßen von der Erkenntnis, das für den Freund die Frauen offenbar austauschbar sind [36] und somit sie ebenfalls nur Eine in einer potentiellen Reihe darstellt, öffnet sich ein Riss, KARLAS Körper scheint nicht mehr vollständig zu sein. Die Auflösung wird als Fluss beschrieben, so dass der Körper, welcher anschließend doch wieder vorhanden ist, wenn KARLA offenbar durch den Fluss ihrer Erinnerung getrieben ist, als das Gegenteil, also als fest, beständig und letztlich auch wieder komplett gedeutet werden kann.
Und also steht sie auf, streicht sich den Rock wieder glatt, ordnet ihre Bluse, hält sich das Haar zurück und steigt und steigt […]. [37]
Insoweit lassen sich vier Ebene der Bedeutung von Körpern aus dem Text heraus lesen:
- Der Körper als Mittel der Erotik. [Die Transformationen]
- Der Körper als Mittel der Kommunikation, die nicht stattfindet.
- Der Körper als Gefängnis, der ohne Kommunikation abstirbt.
- Der Körper als letztendlich Bestehendes, mit dem die Geschichte fortgesetzt wird.
Es gibt, und das ist Teil der Erzählung, keine Auflösung der Körperkonzepte. Sie alle stehen durch die Protagonistin in Verbindung und werden von ihr, trotz Widersprüchen, gelebt oder wahrgenommen. Allerdings werden alle durchlebten letztlich verworfen, einzig der Körper nach den Transformationen und dem Untergang scheint am Ende lebensfähig.
1.5 Der Mann und die Frauen
In der Erzählung kommt näher bezeichnet nur ein Mann vor, und doch scheint die Geschichte auf der Frage nach den Geschlechterverhältnissen zu basieren.
Offensichtlich ist dies, wenn der Betrug des Freundes und die Reaktion darauf geschildert wird. Es sind keine anderen Umstände als dieser, der den Körper der Protagonistin zur Auflösung bringt. Ebenso ist eine gescheiterte Beziehung Schuld am Zustand der Liebenden, die als Tot gezeichnet wird. Dagegen genügt der Mann sich offenbar selbst. Während er bei der Liebenden als omnipräsent beschrieben wird, ist der Freund es, welcher die Frauen wechselt, nicht umkehrt.
Aus dieser Beschreibung heraus gelesen lässt sich vermuten, dass es sich auch bei den misslungenen Kommunikationsversuchen der Protagonistin im ersten Teil der Erzählung um den Versuch handelte, mit Männern oder einem Mann Kontakt aufzunehmen. Das allerdings auch diese relativ austauschbar seien, deutet sich beim Untergang KARLAS an, wenn diese sich auflöst, auch wenn das Bild des spezifischen Mannes schon verschwommen ist. [38]
Dagegen findet zwischen Frauen nicht nur keine Kommunikation statt, der Versuch scheint auch einen ganz anderen Hintergrund zu haben. Geht es bei den Kontaktversuchen zu Männern um Erotik, scheint der zu einer Frau, der Liebenden, eine gemeinsame Ebene zu suchen. Es geht nicht um Eifersucht oder Erotik, dafür aber geht ihr Beispiel offenbar der Protagonistin so nahe, dass sie für sich Ähnliches befürchtet und sich dem entzieht. Die Freundin auf dem Schoß des Freundes wird kaum persönlich beachtet. Ihr Verrat wiegt offenbar weniger schwer, als der des Mannes, welcher eine Krise auslöst.
Andere Menschen sind nur schemenhaft gezeichnet. Offenbar sind sie, die Freunde, notwendiger Resonanzboden KARLAS, spielen aber keine eigenständige Rolle. Letztlich scheinen alle mit ihr, trotz aller Versuche, nicht kommunizieren zu wollen oder zu können.
2. Feministische Zugänge
GABRIELE STÖTZER schrieb als Frau in der DDR und veröffentlichte in Untergrundzeitschriften. [39] Erst 1989, mitten in die Wendezeit hinein, erschien ihre erste offizielle Publikation. [40] Die Autorin wurde sowohl von SASCHA ANDERSON in seinen Berichten für die Staatssicherheit, als auch später von der germanistischen Forschung als Feministin bezeichnet, andere Autorinnen kennzeichneten STÖTZERS Schreiben als feministisch. [41] Im Folgenden soll gefragt werden, in welchem Maße diese Einschätzung berechtigt ist. Ist STÖTZER feministisch? Wenn ja, ist sie dann einer feministischen Tradition zuzuordnen? Hat dieser Feminismus Vorläuferinnen oder ist er originär?
2.1 Die Verortung der Geschlechterverhältnisse
In der Kurzgeschichte SYS findet sich kein direkter Hinweise auf die DDR. Die gezeichneten Beziehungen zwischen Mann und Frauen und zwischen Frauen erscheinen - auch durch die Zitierung antiker Mythen – ahistorisch, durch die Verwendung des Bildes sinnloser und unabschließbarer Arbeit im Bild vom SISYPHUS zudem als unlösbar.
Mit Blick auf die weiteren Texte STÖTZERS lässt sich eine Verschiebung dieser Auffassung feststellen. Die radikale Unmöglichkeit einer Kommunikation, wie sie in SYS gezeichnet scheint, kann Beschreibung für das Leben in der inoffiziellen Literatur- und Kunstszene der DDR verstanden werden. In ZÜGEL LOS [42], 1989 veröffentlicht finden sich vorrangig Texte, die ebenso von einer nicht überwindbaren Grenze sowohl zwischen den Geschlechtern [43], als auch zwischen dem lyrischen Ich und dem Rest der Welt [44] sprechen. In ihrem Brief ERSATZ UND GANZ SCHÖN BEQUEM [45], im Juni 1990 verfasst, schreibt sie zwar „Männer verflüchtigen sich eh“ [46] und behauptet, „[e]s ist mir unmöglich, einen Liebhaber zu bekommen, weil ich als Frau kriminalisiert werde, indem ich alle Todesängste der Männer verkörpere.“ [47] Gleichzeitig betont sie: „Ich kann mit Männern und Frauen zusammenarbeiten […].“ [48] Während sie einerseits in dieser Wortmeldung die Unterdrückung der Frauen benennt, behauptet sie gleichzeitig vor allem ihr autonomes Ich.
In dem Text ERFURTER ROULETTE [49], 1995 veröffentlicht, findet sich dann, das Bild einer geglückten Vereinigung von Frau und Mann. Der Geschlechtsakt wird zur befreienden Handlung erklärt.
plötzlich ficken alle erinnerungen mit in diesem raum in dem ich nur sicher war wenn ich einsam blieb. mit allen hautteilen fühle ich ich habe meinen geliebten. kein oberpriester der mich kastriert und in ewige zurückhaltung bringt der seziert und den ich das auch alles machen lasse kein literaturstaatsverband der mich zur verlorenen generation erklärt keine stasi die schon das wort im mund rumdreht keine i.m.s die in mir ihre gefälschten geschichten zurücklassen keine freundin die sich meinen partner nimmt kein alkohol der den schrei verdrängt. [50]
Auch wenn STÖTZER betont, dass ihre Figuren nicht autobiographisch gelesen werden sollen und es deshalb schwierig erscheint, die Texte als fortlaufende zu lesen, so ist doch festzuhalten, dass in diesem Text der Sexualität eine neue Bedeutung zugeschrieben wird. Es geht nicht mehr nur, wie in anderen Texten zuvor, um ein Verlangen, sondern auch um eine Möglichkeit der Befreiung. Dabei sind zwei Dinge auffällig: zum einen wird in diesem Text eindeutig die DDR thematisiert und zum anderen findet der Geschlechtsakt mit einem Mann statt, der außerhalb der literarischen DDR-Szene steht. [51] Die Überwindung der Kommunikationslosigkeit fällt mit dem Hinaustreten aus dem bekannten Zusammenhang zusammen.
Hatte STÖTZER dann in ihrem Buch über eine Haft in Frauengefängnis SCHLOSS HOHENECK, DIE BRÖCKELNDE FESTUNG [52], nicht direkt über Geschlechterverhältnisse geschrieben, so scheint im Rückblick die Zeit in der DDR und vor allem im literarischen Untergrund, positiv gedeutet zu werden.
Weil ich weiter an diese Zeit glaube, an unsere Gefühle, an unser Sein als Deutsche [53], an unsere Berechtigung, das Wort zu erheben, an die Schwere dieser Zeit, an die Treue zu den Menschen, mit denen ich da gelebt habe, an diese Gemeinschaft der Gefangenen, an die Gemeinschaft derer, die unter schwierigen Umständen versucht haben, zu leben und nicht aufzugeben […] [54]
Diese Widersprüchlichkeit, auf der einen Seite eine jeweils eigenständige Stellung der Geschlechter zu postulieren, bei der die Frauen als Unterdrückte gelten und auf der anderen Seite von einer möglichen Gemeinsamkeit der Geschlechter auszugehen und diese anzustreben [55], um heute diese Frage fast hinter andere Probleme zurückzustellen, ist allerdings nicht nur bei STÖTZER zu finden. Es wurde allgemein für die als feministisch angesehenen Schriftstellerinnen der DDR postuliert. LORNE MARTAS, die versucht das Phänomen des Feminist Writing in the GDR einem US-amerikanischen Publikum zu erklären, insistiert darauf, dass, bei aller Kritik an der DDR-Gesellschaft, die meisten dieser Autorinnen von einem marxistischen Standpunkt aus argumentieren.[56] Letztlich, so ihre These, ist auch das feministische Schreiben in der DDR nicht von der DDR-Gesellschaft und der Frauenförderpolitik zu trennen. Auch wenn diese Politik berechtigt als Mutterförderpolitik und auf die Ökonomie ausgerichtet kritisiert werden kann, so basiert sie doch auf gesellschaftlichen Fortschritten, auf die US-amerikanische Frauen erst zuarbeiten müssten. [57]
Die hinter einer solchen Argumentation stehende These, dass die jeweilige Form des Feminismus sich jeweils auf die Verhältnisse bezieht, die kritisiert werden und das erst aus diesem Blickwinkel heraus die restliche Gesellschaft interpretiert wird, lässt sich auch auf GABRIELLE STÖTZERS Texte anwenden. [58] Insoweit wäre die Beschreibung einer nicht funktionierenden Kommunikation gerade, aber nicht nur zwischen den Geschlechtern, vor allem mit der nicht-offiziellen Literaturszene der DDR zu erklären.
2.2 Die Beziehung der Geschlechter
etwas fehlte mir in dieser männlichen welt in der frauen immer wieder diesen schweigenden gescheiterten männern neue generationen zum ausprobieren ihrer lust hinwarfen […] > ich ahnte dass es eine öffentliche form ein bild der eigentlichen zensur war die mich von den anderen inhalten abhielt die sich männer trotzdem irgendwie verschafften sich den frauen aber in der öffentlichkeit des mitmännernlebens nicht vermittelte […] [59]
Das die Männer sich in einer anderen Situation befinden, als die Frauen, ist ein in STÖTZERS Werken immer wieder benanntes Sujet. Dabei bleibt es einigermaßen unklar, worin diese Differenz besteht. Es geht um den Zugang zur Öffentlichkeit, um die Möglichkeit Liebe und körperliche Zuneigung zu verweigern, wie bei SYS, oder um den Fakt, das die meisten machtvollen Positionen von Männern besetzt sind. [60] Doch während sich andere Autorinnen um den Grund dieser Differenz Gedanken machen, bleibt STÖTZER bei der Zustandsbeschreibung.
Dadurch erscheinen allerdings die Verhältnisse unauflösbar. Es findet sich keine Befreiungspersektive, spätestens mit dem Text FRAUENGRUPPE [61] wird auch der Rückzug in homosoziale Gruppen für gescheitert erklärt. Die schon in SYS beschriebene ständige Widerholung der Verhältnisse scheint ein feststehendes Bild für STÖTZER zu sein. [62] Das heißt, ebenso wie bei SYS in den retardierenden Momenten, nicht, dass keine Reflektion über die Möglichkeit einer Befreiung stattfindet. Aber sie wird weder systematisch, noch konsequent zu Ende geführt.
2.3 Die Frau und ihr Körper
Eine wichtige Rolle spielt in SYS der Körper der Protagonistin. Er ist sowohl Objekt, als auch einer der Orte der Handlung. Letztlich ist es das gerade nicht näher benannte Körperbild KARLAS, welches schließlich Bestand zu haben scheint und die Geschichte fortsetzen wird. [63] Dieses Bild, sich letztlich auf den eigenen Körper, der nach dem Untergang erscheint und zum Beispiel die Körper für die anderen - wie sie zum Beispiel mit der Spanierin benannt werden - ersetzt, findet sich auffällig oft in anderen Texten STÖTZERS wieder.
In der Erzählung von der Einlieferung einer Ich-Figur in ein Gefängnis und den ersten Tagen in dieser Anstalt, DAS ANDERE [64], wird eine solche Vorstellung durchgespielt. Als erstes Erlebnis in der Anstalt wird die Reduzierung der Person zur verwaltbaren Sache beschrieben.
die treppen, die gänge, die erste zelle, meine kleider, die ich ausziehen, ihre unterwäsche und der graue trainigsanzug, die ich anziehen mußte. sie nahmen mir meine ganze äußere existenz, alles. sie nahmen mir alles aus dieser welt, sie zeigten mit ihr unendliche macht über mich. [65]
In den ersten Tagen wird das Weinen als Erlösung empfunden, um die verzweifelte Situation zu bewältigen. Anschließend allerdings, mit dem Versuch sich einzuleben, wird der Körper zum formbaren Mittel und Rückzugsort der Empfindungen.
es war eine bewusst gewollte ignoranz, die mich umschloß, sie trieb mich in eine einsamkeit, in der ich mich in einem übermaß mit mir selbst beschäftigte, durch die dünn gewordene schicht, zwischen haut und knochen, begann ich in korrespondenz zu treten mit meiner inneren anatomie. ich genoß jede art von körperlichen schmerz. einmal hatte ich bauchschwerzen, ich saß staunend auf dem hocker und hoffte, dass dieses zwicken und zwacken dorrt noch lange anhalten würde. oder ich übte die luft anzuhalten und dabei immer länger zu zählen. [66]
Der eigene Körper wird als letzter erreichbarer Ort angesehen, auf den die Empfindungen sich zurückziehen können. Die zuvor geschilderten Umstände der Verhaftung verschwinden ebenso wie die Gesellschaft verschwindet. Erst nach diesen asketischen Übungen erlebt die Protagonistin eine Art Wiedergeburt, wenn sie von einer Mitgefangenen in die Formen der Kommunikation zwischen den Gefangenen eingeweiht wird. Die Zeit mit ihr wird als Neuanfang beschrieben. Das es sich bei dieser um eine Frau handelt, ist zwar folgerichtig, erscheint aber nicht nur dem Ort der Handlung, sondern auch den Texten der Autorin folgend konsequent.
So beschreibt der Text FRAUENGRUPPE [67] die, wenn auch scheiternde, Utopie einer homosozialen Gruppe, in der die „selbstverwirklichung“ [68] realisiert werden kann. In DAS SCHÖNSTE BILD IM AUFGESCHNITTENEN MENSCHEN werden gerade die inneren Geschlechtsorgane der Frau angepriesen. [69]
Eine solche Überhöhung des weiblichen Körpers, der als wieder zu erobernder Ausgangspunkt einer menschlicheren Gesellschaft beschrieben wird, lässt sich auch in der westlichen und vor allem der bundesdeutschen feministischen Praxis der 1970er und 1980er nachweisen. [70] Während dies auf der einen Seite zur Selbstermächtigung von Frauen beitrug, entstand auf der anderen Seite die Vorstellung einer biologisch determinierten und deshalb nicht zu überwindenden Geschlechterdifferenz. Auffällig ist, dass GABRIELE STÖTZER, obwohl sie selber behauptet, keine feministische Literatur gelesen zu haben [71], ähnliche Bilder verwendet, wie westdeutsche feministische Autorinnen.
Insoweit scheint Stötzer zwar feministische Texte geschrieben zu haben, ohne Teil einer feministischen Bewegung sein zu können. Dies ist kein Versäumnis der Autorin, sondern wird in unterschiedlichen Texten zum feministischen Schreiben in der DDR als situationsbedingt beschrieben. Außer in der Kirche gab es keinen Ort, an dem sich eine nicht staatlich orientierte feministische Bewegung hätte etablieren können. Insoweit blieb es bei vereinzelten Ansätzen feministischer Kritik und Praxis, vor allem in der Literatur und in Universität. Es gab indessen keine Diskussion über dieses Thema, zumal es oft auch von den heute als Feministinnen angesehen Personen nicht als maßgeblich angesehen wurde. [72]
3. Biographische Zugänge
3.1 Biographie
Neben dem hermeneutischen und dem feministischen Zugang zu GABRIELE STÖTZERS Texten, wird die Interpretation als autobiographische Äußerungen von den meisten Autorinnen und Autoren praktiziert.
STÖTZER, 1953 geboren, wurde 1976 wegen ihrer Unterschrift unter den offenen Brief von Intellektuellen der DDR gegen die Ausbürgerung WOLF BIERMANNS exmatrikuliert und zu insgesamt einem Jahr Haft zum Teil im Frauengefängnis SCHLOSS HOHENECK verurteilt. Sie entschloss sich in der DDR zu bleiben und lebte ab 1980 freiberuflich als Galeristin, Schriftstellerin und Künstlerin in Erfurt. Dabei wurde sie Teil der inoffiziellen Kunstszene der DDR, wurde von der Staatssicherheit überwacht und baute gleichzeitig eine Frauengruppe auf. Neben dem Schreiben photographierte sie, drehte Kurzfilme und Webte. Sie ließ sich von ihrem Mann scheiden, engagierte sich 1989 und 1990 zum Beispiel bei der Besetzung der Stasi-Zentrale in Erfurt. Anschließend baute sie das heutige Kunsthaus Erfurt mit auf und erhielt mehrere Stipendien. Heute lebt sie im niederländischen Utrecht. Sie publizierte vorrangig in nicht-offiziellen Zeitschriften, mit Ausnahme der Erzählung SYS, erscheinen erst seit 1989 Monographien. [73]
Die Parallelen zu den meisten Texten STÖTZERS sind evident. Sie berichten von ähnlichen Situationen und folgen dem Leben der Autorin. So heißt ihre dritte Monographie ERFURTER ROULETTE und scheint sich auf das Leben STÖTZERS in Erfurt zu beziehen. [74] Vor allem die darin enthaltene Textsammlung ERFURT beschäftigt sich mit dem Leben in der inoffizielle DDR-Kunstszene, der Überwachung und Ausspitzelung durch die Stasi, das Scheitern einer Frauengruppe, dem Gefühl eines allgegenwärtigen Betrugs und der Kunstproduktion unter diesen Bedingungen. [75]
Der Eindruck von autobiographischen Äußerungen wird durch die Vorworte zu den beiden Bänden ZÜGEL LOS [76] und GRENZEN LOS FREMD GEHEN [77] verstärkt. Im ersten bezeichnet Gerhard Wolf die Texte als aus „spontan wie unkontrolliert notierten und so stehen gelassenen Sätzen“ [78] bestehend. Das Vorwort zum zweiten Buch ordnet die Texte den Reisen und Empfindungen der Autorin zu. [79] Zudem verwendet die Autorin unterschiedliche epische Formen, darunter oft Tagebuchartige Einträge.
Das in DIE BRÖCKELNDE FESTUNG [80] mehrere schon einmal publizierte Geschichten neu erzählt werden, verstärkt die autobiographische Zugangsweise weiter. Eine Figur namens KARLA, wie die Protagonistin in SYS, taucht in diesem Werk wieder auf, in Interview zu ihrem aktuellen Werk benennt die Autorin KARLA eindeutig als „autobiographische Figur“ [81], deren Vorbild ihr im Gefängnis beim Einleben geholfen hätte.
Insoweit stehen dem autobiographischen Zugang die weiter oben angeführten Äußerungen der Autorin und einiger Germanistinnen entgegen, allerdings nicht die Texte selber. Gleichzeitig ist eine Anwendung dieses Zugangs auf die Erzählung SYS wenig produktiv. Es gibt keine lesbaren Hinweise von eine Verankerung der Kurzgeschichte in der Biographie STÖTZERS, die nicht reine Spekulation bleiben würde, ebenso wenig wie es Hinweise auf den Schreib- und Wohnort DDR gibt.
3.2 Die DDR als Wohn- und Arbeitsort
3.2.1 Inoffizielles Schreiben in der DDR
Das Publizieren in der DDR fand immer unter staatlicher Aufsicht statt. Es bedurfte einer Druckgenehmigung des MINISTERIUMS FÜR KULTUR, die erst nach Gutachten und notfalls Änderungen der Druckwerke erteilt wurden. Insoweit war die Produktion von Literatur an die Vorgaben der Kulturpolitik gebunden und ein Sache des Aushandelns. Diese Kulturpolitik wird allgemein in vier Phasen unterteilt.
- 1945-49 : Antifaschistische Literatur
- 1949-1961 : Literatur zum Aufbau des Sozialismus
- 1961-1971 : Versuch den Alltag zu meistern
- 1971-1989 : teilweise Liberalisierung unter ERICH HONECKER und gleichzeitig Exodus von Intellektuellen nach der Ausbürgerung WOLF BIERMANNS [82]
Mit dieser Ausbürgerung und den darauf folgenden Repressionen beginnt sich eine eigenständige nicht-offizielle Kulturszene zu etablieren, die zum Beispiel unter Ausnutzung von Gesetzeslücken beginnt Zeitschriften in kleinster Auflage zu publizieren. Auch wenn im Nachhinein unterschiedliche Bewertungen dieser Szene, die relativ schnell nach 1989 zerfiel, vorliegen [83], so ist doch von einem ähnlichen Schreibhintergrund der Künstlerinnen und Künstler auszugehen. Dieser war von der relativ stagnierenden Gesellschaft und Politik gekennzeichnet, in der der Sozialismus in einer Auslegung als Leitbild galt. Die von dieser Linie abweichenden Autorinnen und Autoren waren einer beständigen Überwachung ausgesetzt, der sie sich verhältnismäßig bewusst waren.
Vor diesem Hintergrund müssen die Texte und Produkte betrachtet werden, vor allem die Tendenz zum Sprachexperiment. GERRIT-JAN BERENDSE konstatiert, dass die DDR-Kulturpolitik versucht hätte, eine „Amalgierung“ [84] nationaler und internationaler Kultur zu verhindern. Insoweit war der experimentelle Umgang mit Sprache indirekt zum Mittel einer „Schreibguerilla“ [85] erklärt worden, deren Protagonisten und Protagonistinnen dem monolithisch erscheinenden Block der letztlich konservativen Kulturpolitik nur ihre Verweigerung entgegenhalten konnten.
3.2.2 Weibliches Schreiben
Weibliches oder gar feministischen Schreiben war in dieser Situation mit besonderen Problemen belastet. Zum einen gab es zwar eine Tradition von Texten, auf die sich bezogen werden konnte, [86] andererseits gab es keine autonome Frauenbewegung wie zum Beispiel in der Bundesrepublik Deutschland. [87] Die Untergrundszene war in dieser Hinsicht auch kein Rückzugsraum. Sie war größtenteils von Männern geprägt, vor allem in der Gruppe der Schreibenden. Es gab keine Sensibilisierung für die spezifischen Probleme der sozialen Stellung der Frauen. [88] Insoweit ist es nicht überraschend, wenn in der relativ kleinen inoffiziellen Kunstszene der DDR nur GABRIELE STÖTZER sich zu diesem Thema, das allerdings relativ rabiat und eindeutig, äußerte.
In der Untersuchung von Texten von Autorinnen in nicht offiziellen Zeitschriften, stellt BIRGIT DAHLKE folgende Merkmale fest, die sich regelmäßig wieder finden ließen:
- „Bruchstückhaftigkeit“
- Problematisierung der Sprachlosigkeit
- „sprachinnovative Ansätze“
- subjektive Schreibweise
- „oft autobiographisch“
- Körperlichkeit und Körpererfahrung spielen eine wichtige Rolle [89]
Daraus, so DAHLKE, ist zu schließen, dass es einen speziellen sozialen Ort des weiblichen Schreibens auch in der DDR gegeben hat, der in der Situation der Frauen in der DDR erklärt werden muss. MECHTHILD M. MATHEJA-THEAKER stellte zudem fest, dass im zergliederten Alltag der Frauen in der DDR zwischen Berufsanforderung und Familie nur kurze Momente für Reflektionen und Schreiben blieben und das dies nicht nur thematisiert, sondern sich auch in der Bevorzugung epischer Kurzformen äußern würde. [90]
Unter diesem Blickwinkel sticht die Erzählung SYS nicht aus anderen Texten heraus und erfüllt eine Anzahl der analysierten Merkmale. Allerdings ist auch dieser Zugang für diese Geschichte äußerst unproduktiv, da er wenig Innovatives zum schon Analysierten beiträgt. [91]
4. Schluss
Die verschiedenen Zugänge zur Erzählung SYS haben vor allem aufgezeigt, dass dieser Text zu den bevorzugten Thematiken und Formen der Autorin passt: die Unmöglichkeit einer Kommunikation, die eine Beziehung zwischen Mann und Frau bestenfalls auf Ausbeutung basieren lässt, der Körper als Kommunikationsmittel und gleichzeitig letzte Basis der Protagonistin und der Verrat zwischen den Menschen.
Es haben sich keine Hindernisse gezeigt, andere als hermeneutische Zugangsweisen zum Text zu wählen. Freilich erscheinen diese hier wenig produktiv. Allerdings zeigte sich bei der Kontextualisierung auch, dass dieser Text selber wenig innovativ ist. Festzustellen bleibt zudem, dass sich die angedeuteten Ergebnisse der unterschiedlichen Ansätze nicht widersprechen und gut nebeneinander stehen könnten.
Vielleicht ist die Behauptung der Autorin, ihre Protagonistinnen seine immer auch eine Figur, vor allem strategisch zu verstehen in der Zeit nach 1990, in der die Rezeption von Literatur aus der DDR vor allem politisch und weniger germanistisch orientiert war. [92]
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